Franz Schuberts Novelle: Mein Traum

Mit Franz Schuberts meisterhaftem Liedzyklus Winterreise D 911, opus 89 eröffneten der Tenor Raphael Höhn und Shin Hwang am Hammerklavier die Quintessenz-Veranstaltungen des Jahres 2025.
Ihrer tiefsinnigen und klangschönen Interpretation wurde die Novelle Mein Traum vorangestellt, die Schubert 1822 geschrieben hat.
Die Vertonung der Winterreise
„Für den Eingeweihten ist die Winterreise eines der großen Feste des musikalischen Kalenders: ein ernstes Fest, aber auch eines, das eigentlich immer das Unaussprechliche streift und tief zu Herzen geht.“
Diese Beschreibung des englischen Sängers Ian Bostridge trifft die Stimmung im Saal, jedes Mal, wenn die Winterreise aufgeführt wird. Dieses Werk wird, je öfter man es studiert, hört oder musiziert zu einem Mysterium.
Das mag auch damit zusammenhängen, dass Franz Schubert die Korrekturfahnen für die Veröffentlichung seines letzten Liedzyklus‘ Winterreise bis zum 17. November 1828, also zwei Tage vor seinem Tode bearbeitete. Die Analogie zu Mozarts Komposition des Requiems ist naheliegend. Der Musikwissenschaftler Elmar Budde schreibt, dass Schubert mit der Winterreise eine Grenze überschritten hat. Möglicherweise sogar Grenzen auf mehreren Ebenen?
Schuberts Grenzüberschreitungen
Raphael Höhn argumentierte nach dem Konzert überzeugend, er sehe eine politische Doppelbödigkeit der Texte, deren Chiffren Schubert sicherlich verstanden hat. So interpretiert er beispielsweise die drei Sonnen im Lied Die Nebensonnen (Nr. XXIII) als die drei Ideale der französischen Revolution „Liberté, Egalité, Fraternité“, von denen nach Wilhelm Müllers Empfinden in der Zeit der Restauration nur noch eine übriggeblieben ist. Auch den Frühlingstraum (Nr.XI) versteht der Sänger als eine Reminiszenz an die Freiheitsbewegung, in der die krähenden Hähne als Symbol für die französischen Revolutionäre stehen.
Franz Schubert begegnete 1823 den ersten zwölf Gedichten der Winterreise von Wilhelm Müller in der Zeitschrift Urania. Taschenbuch auf das Jahr 1823. Kurz zuvor, im November 1822 hatte er sich mit der Syphilis angesteckt. Die Erkrankung sowie die Behandlung mit Quecksilber beeinträchtigten sein Leben und Schaffen in erheblichem Maße, genauso wie die Zensur und Enge des Metternich‘schen Regimes. Das Ausloten dieser Grenzen war für ihn und seinen künstlerischen Freundeskreis Pflicht und Bedürfnis zugleich.
Durch die Begegnung mit Krankheit und Tod überschritt Schubert mit der Winterreise aber auch auf der geistig-seelischen Ebene eine Grenze, die seine Freunde beim ersten Hören völlig verstört zurückließ.
Erst 1827 machte er sich an die Komposition der ersten 12 Lieder der Gedichte von Wilhelm Müller. Nach dessen Veröffentlichung im privaten Kreis entdeckte Schubert weitere 12 Gedichte, die Müller in seinen Sieben und siebzig Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten, Zweiter Band bereits 1824 veröffentlicht hatte. Während der Vertonung der zweiten Abteilung der Winterreise im September und Oktober 1827 verstarb der Dichter Wilhelm Müller mit nur 32 Jahren in seiner Heimatstadt Dessau.
Die Novelle Mein Traum von Franz Schubert
Bereits im Sommer 1822 schrieb Franz Schubert eine Novelle, die wie ein Fanal, ja fast wie eine geistige Schau auf sein kommendes Schicksal wirkt. Neben den Bildern des Verlustes und dem Zerrissensein zwischen Liebe und Schmerz umfasst diese Novelle aber auch die Transzendenz und Erlösung, die sich bei Schubert natürlich akustisch durch einen wunderlieblichen Ton ankündigt.
Mein Traum
Den 3. Juli 1822
Ich war ein Bruder vieler Brüder und Schwestern. Unser Vater, unsere Mutter waren gut. Ich war allen mit tiefer Liebe zugethan. – Einstmals führte uns der Vater zu einem Lustgelage. Da wurden die Brüder sehr fröhlich. Ich aber war traurig. Da trat mein Vater zu mir und befahl mir, die köstlichen Speisen zu genießen. Ich aber konnte nicht, worüber mein Vater zürnend mich aus seinem Angesichte verbannte. Ich wandte meine Schritte und mit einem Herzen voll unendlicher Liebe für die, welche sie verschmähten, wanderte ich in ferne Gegend. Jahre lang fühlte ich den größten Schmerz und die größte Liebe mich zertheilen. Da kam mir Kunde von meiner Mutter Tode. Ich eilte sie zu sehen, und mein Vater, von Trauer erweicht, hinderte meinen Eintritt nicht. Da sah ich ihre Leiche. Thränen entflossen meinen Augen. Wie die gute alte Vergangenheit, in der wir uns nach der Verstorbenen Meinung auch bewegen sollten, wie sie sich einst, sah ich sie liegen.
Und wir folgten ihrer Leiche in Trauer und die Bahre versank. – Von dieser Zeit an blieb ich wieder zu Hause. Da führte mich mein Vater wieder einstmals in seinen Lieblingsgarten: er fragte mich, ob er mir gefiele. Doch mir war der Garten ganz widrig und ich getraute mir nichts zu sagen. Da fragte er mich zum zweiten Male erglühend: ob mir der Garten gefiele? Ich verneinte es zitternd. Da schlug mich mein Vater und ich entfloh. Und zum zweiten Male wandte ich meine Schritte und mit einem Herzen voll unendlicher Liebe für die, welche sie verschmähten, wanderte ich abermals in ferne Gegend. Lieder sang ich nun lange, lange Jahre. Wollte ich Liebe singen, ward sie mir zum Schmerz. Und wollte ich wieder Schmerz nur singen, ward er mir zur Liebe.
So zertheilte mich die Liebe und der Schmerz.
Und einst bekam ich Kunde von einer frommen Jungfrau, die einst gestorben war. Und ein Kreis sich um ihr Grabmal zog, in dem viele Jünglinge und Greise auf ewig wie in Seligkeiten wandelten. Sie sprachen leise, die Jungfrau nicht zu wecken.
Himmlische Gedanken schienen immerwährend aus der Jungfrau Grabmal auf die Jünglinge wie leichte Funken zu sprühen, welche sanftes Geräusch erregten. Da scheute ich mich sehr auch da zu wandeln. Doch nur ein Wunder, sagten die Leute, führt in diesen Kreis. Ich aber trat langsamen Schrittes, immer Andacht und fester Glaube, mit gesenktem Blicke auf das Grabmal zu, und eh‘ ich es wähnte, war ich in dem Kreise, der einen wunderlieblichen Ton von sich gab; und ich fühlte die ewige Seligkeit wie in einen Augenblick zusammengedrängt. Auch meinen Vater sah ich versöhnt und liebend. Er schloß mich in seine Arme und weinte. Noch mehr aber ich.
Bostridge, Ian (2022). Schubters Winterreise. Lieder von Liebe und Schmerz. München: C.H. Beck.
Budde, Elmar. Schuberts Liederzyklen. Ein musikalischer Werkführer. München: C.H.Beck.
Hs-29190: Franz Schubert: Mein Traum Abschrift für: Herausgebertätigkeit: Österreichische Bibliothek: Schubert im Freundeskreis, SW XXXVI, s. Anm. 203 zu S. 612,3, dort nicht erwähnt. Altsignatur: Hofmannsthal-Stiftung (HSt) ohne Zählung https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/PO3FOZY7ABUB3KNRHFREC47CJBIEWO5L

Bilder vom Konzert finden Sie hier:
Die Homepage von Raphael Höhn, Tenor finden Sie hier:
