Friedrich Schiller: Die Macht des Gesanges

von | 9 Juli 2025 | Allgemein, Geistiges, Musik, Sprache

Das Gedicht Die Macht des Gesanges von Friedrich Schiller erschien zum ersten Mal im Musen-Almanach auf das Jahr 1796. Nach seiner bewegten revolutionären Sturm- und Drang Phase der 1780-er Jahre und der Überwindung einer lebensbedrohlichen Erkrankung im Jahr 1791 begann für Schiller eine blühende Schaffenszeit. Sie wird auch als seine klassische Phase bezeichnet.

Über die Kunst und das Schöne

Friedrich Schiller (1759 – 1805) war schon in jungen Jahren ein erfolgreicher Dramatiker und angesehener Literat. Ab 1795 war er als Herausgeber des jährlich erscheinenden Musen-Almanachs sowie der Zeitschrift Horen tätig. In beiden Publikationen war er für die Veröffentlichung der Werke der großen Schriftsteller seiner Zeit verantwortlich. Darunter zählten unter anderem Werke von Gottfried Herder, Johann Wolfgang von Goethe, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Hölderlin den Gebrüdern Schlegel, den Gebrüdern Humboldt oder Johann Heinrich Voß.
Seit 1794 lebte Schiller mit seiner Ehefrau und seinem Sohn in Jena. Im Sommer dieses Jahres begann der regelmäßige Briefwechsel mit Goethe in Weimar, der sich bald zu einer persönlichen Freundschaft vertiefte. Diese Freundschaft dauert bis zu Schillers Tod am 9. Mai 1805 an. Ihr intensiver Austausch beeinflusste gegenseitig ihre im Entstehen befindlichen Schriften. Er führte sogar zu gemeinsamen Veröffentlichungen, den sogenannten Xenien. In diesen polemisch kritischen Distichen blitzte noch einmal der revolutionär-angriffslustige Geist beider Literaten auf. Wie zum Beispiel in der Anekdote auf Friedrich 2:

Anekdoten von Friedrich 2

Von dem unsterblichen Friedrich, dem einzigen, handelt in diesen
Blättern der zehenmalzehntausendste sterbliche Fritz.

Mehr als die Ränkespiele unter Literaten verband Schiller und Goethe aber die Auseinandersetzung mit dem Tiefen der Kunst, dem Unergründlichen, der Schönheit und dem Geheimnis darüber, was die Welt im Innersten zusammenhält. Auf die Kunst, die Wahrnehmung und das Handeln bezogen, erörterte Schiller diese Fragen in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen von 1795. Wie eine ästhetische Essenz dieser Briefe wirkt das 1795 entstandene Gedicht Die Macht des Gesanges

Die Macht des Gesanges

Ein Regenstrom aus Felsenrissen,
Er kommt mit Donners Ungestüm,
Bergtrümmer folgen seinen Güssen,
Und Eichen stürzen unter ihm.
Erstaunt mit wollustvollem Grausen
Hört ihn der Wanderer und lauscht,
Er hört die Flut vom Felsen brausen,
Doch weiß er nicht, woher sie rauscht;
So strömen des Gesanges Wellen
Hervor aus nie entdeckten Quellen.

Verbündet mit den furchtbarn Wesen,
Die still des Lebens Faden drehn,
Wer kann des Sängers Zauber lösen,
Wer seinen Tönen widerstehn?
Wie mit dem Stab des Götterboten
Beherrscht er das bewegte Herz,
Er taucht es in das Reich der Toten,
Er hebt es staunend himmelwärts,
Und wiegt es zwischen Ernst und Spiele
Auf schwanker Leiter der Gefühle.

Wie wenn auf einmal in die Kreise
Der Freude, mit Gigantenschritt,
Geheimnisvoll nach Geisterweise
Ein ungeheures Schicksal tritt.
Da beugt sich jede Erdengröße
Dem Fremdling aus der andern Welt,
Des Jubels nichtiges Getöse
Verstummt, und jede Larve fällt,
Und vor der Wahrheit mächt’gem Siege
Verschwindet jedes Werk der Lüge.

So rafft von jeder eiteln Bürde,
Wenn des Gesanges Ruf erschallt,
Der Mensch sich auf zur Geisterwürde,
Und tritt in heilige Gewalt;
Den hohen Göttern ist er eigen,
Ihm darf nichts Irrdisches sich nahn,
Und jede andre Macht muß schweigen.
Und kein Verhängnis fällt ihn an,
Es schwinden jedes Kummers Falten,
So lang des Liedes Zauber walten.

Und wie nach hofnungslosem Sehnen,
Nach langer Trennung bitterm Schmerz,
Ein Kind mit heißen Reuetränen
Sich stürzt an seiner Mutter Herz,
So führt zu seiner Jugend Hütten,
Zu seiner Unschuld reinem Glück,
Vom fernen Ausland fremder Sitten
Den Flüchtling der Gesang zurück,
In der Natur getreuen Armen
Von kalten Regeln zu erwarmen.

Über das Sinnliche, die Form und das Spiel

Einen wesentlichen Einfluss auf Schillers Briefe zur ästhetischen Erziehung hatte das Werk von Immanuel Kant. Schiller erweiterte das enge Korsett der Kant’schen Vernunfttheoriw. Diese betrachtete die Neigung als Übel, die die individuelle Freiheit verhindere. Schiller untersuchte das Ästhetische der sinnlichen Wahrnehmungsformen als Grundlage der Neigungen und unterschied zwei Polaritäten: den sinnlichen Trieb und den Formtrieb. Beide Neigungen, von Schiller Triebe genannt, sind für die Vernunft unvereinbar.

„Der sinnliche Trieb will, daß Veränderung sey, daß die Zeit einen Inhalt habe; der Formtrieb will, daß die Zeit aufgehoben, daß keine Veränderung sei.“  (14. Brief, S. 55)

Die Synthese dieser konträren Triebe bildet, sozusagen als mysterium coniunctionis, der Spieltrieb.

„[…] der Spieltrieb also würde dahin gerichtet seyn, die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Seyn, Veränderung mit Identität zu vereinbaren.“  (14. Brief, S. 57)

In Schillers Gedicht Die Macht des Gesangs übernimmt der Gesang der Natur diese vereinbarende Rolle. Er ist lebendiges Wasser. Er taucht das Herz in das Reich der Toten und hebt es gleichzeitig himmelwärts. Er bringt jede Erdengröße dazu, sich vor ihm zu verneigen und bringt die Lüge ans Licht. Er verhilft dem Menschen zur metaphysischen Entwicklung, zur Geisterwürde und führt die Seele zu seiner Unschuld reinem Glück.

Diese archaische Kraft, die Schiller so kunstvoll formulierte, wohnt seinem Spieltrieb inne. Das reine Glück der jugendlichen Unschuld in geistigem Sinne, also der Vereinigung von Vernunft und Intuition, wird als wahres Ziel angestrebt.

Bereits 1779 verfasste Goethe den Gesang der Geister über den Wassern. Dieses Gedicht wirkt wie der Text zu Schillers Die Macht des Gesanges. Der von Schiller beschriebene Naturgesang, das Werden und Vergehen wird bei Goethe verstehbar und von den Geistern erläutert.

Gesang der Geister über den Wassern

Des Menschen Seele
Gleicht dem Wasser:
Vom Himmel kommt es,
Zum Himmel steigt es,
Und wieder nieder
Zur Erde muß es,
Ewig wechselnd.

Strömt von der hohen,
Steilen Felswand
Der reine Strahl,
Dann stäubt er lieblich
In Wolkenwellen
Zum glatten Fels,
Und leicht empfangen
Wallt er verschleiernd,
Leisrauschend
Zur Tiefe nieder.

Ragen Klippen
Dem Sturz entgegen,
Schäumt er unmutig
Stufenweise
Zum Abgrund.

Im flachen Bette
Schleicht er das Wiesental hin,
Und in dem glatten See
Weiden ihr Antlitz
Alle Gestirne.

Wind ist der Welle
Lieblicher Buhler;
Wind mischt vom Grund aus
Schäumende Wogen.
Seele des Menschen,
Wie gleichst du dem Wasser!
Schicksal des Menschen,
Wie gleichst du dem Wind!

Vertonung der Gedichte

Beide Gedichte sind vertont worden. Carl Czerny (1791-1857), der vornehmlich für seine Klavieretüden bekannt ist, hat Die Macht des Gesanges als eine lebendige Vertonung im klassischen Stil für gemischten Chor und Orchester komponiert. Unüberhörbar ist, dass Czerny Schüler Beethovens war. In Form, Motivik und Orchestrierung klingt einem der große Meister wieder. Es scheint aber, dass Czerny in Schillers Gedicht eher das Heroische, Revolutionäre des Dramatikers Schiller als das Metaphysische des Gedichts vertont hat.

Franz Schubert (1797-1828) komponierte den Gesang der Geister über den Wassern 1821 (D 714) für achtstimmigen Männerchor und Streichorchester. Schubert lotet die (Unter-)Welt des Wassers harmonisch wie auch von der Art der Instrumentierung aus. Der Einsatz des Trauermarsch-Motivs (Halbe – Viertel – Viertel) des Cellos, das sich wie ein roter Faden durch das Stück zieht, erinnert an das 1824 entstandene Streichquartett Der Tod und das Mädchen (D810). Schubert öffnet mit diesem Frühwerk bereits die Grenzen zur Romantik. Es klingt somit weitaus progressiver als die klassische Vertonung Czernys (der Entstehungszeitpunkt von Czernys Komposition wird auf die 1830-er Jahre geschätzt).
Zudem wechselt Schubert kunstvoll zwischen doppelchörigen und achtstimmigen homophonen Passagen. Dies weist darauf hin, dass er die erste Fassung Goethes kannte, in dem die Verse abwechselnd von Geist 1 und Geist 2 gesprochen werden.

Quellen

Goethe, J.W.v. (2015). Gesammelte Werke. Die Gedichte. Köln: Anaconda.

Schiller, F. (2000). Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Ditzingen: Reclam.

Schiller, F. (2005). Sämtliche Gedichte und Balladen. Berlin: Insel.

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