Souveränität, Präsenz und Resonanz
Wenn’s drauf ankommt
Erwartungsdruck, Nichtwiederholbarkeit, Konsequenz bei Misslingen und externe Ziel- und Zeitvorgaben sind nach Ansicht des Sportpsychologen Hans Eberspächer die zentralen Druckbedingungen für Menschen, die Höchstleistungen erbringen sollen, „wenn’s drauf ankommt“. Neben Sportlern im Wettkampf betrifft dies natürlich auch Persönlichkeiten auf der Bühne. Der Bereich der Bühne ist dabei recht weit zu fassen. Ob Musiker im Konzert, Redner im Vortrag, Manager in wichtigen Verhandlungen, Lehrende im Unterricht, Politiker vor der Kamera, Schauspieler im Theaterstück, Studierende in einer Prüfung oder Lieschen Müller bei der Geburtstagesrede.
(Zu) hohe Erwartungshaltung
„Ich muss perfekt sein und darf keine Fehler machen. Mein Professor sagt, ich muss Wettbewerbe gewinnen, sonst wird es schwer, einen Platz im Solistenexamen zu bekommen. Geschweige denn, Einladungen zu Konzerten.“
Dies war die Antwort einer hochbegabten jungen Pianistin auf die Frage was denn ihre Zielsetzung für das Mentalcoaching sei. Sie wollte mentale Techniken lernen, weil sie ihr Können auf der Bühne nicht verlässlich abrufen konnte. Außerdem bekam sie zunehmende Probleme mit Übelkeit vor Auftritten und litt unter dauerhaften Schlafproblemen. Ein Zustand, den viele Künstler kennen und im suboptimalen Fall mit Schlafmitteln, Beta-Blockern, Alkohol oder sonstigen Substanzen zu lösen versuchen. Meist mit geringem Erfolg.
Die junge Künstlerin stand unter immensem Erwartungsdruck. Erwartungen unterschiedlichster Seiten: ihres Lehrers, der Jurys diverser Wettbewerbe, dem Publikum, des (potenziellen) Arbeitsmarktes, ihrer Kommilitoninnen, der Hochschule und ihrer Familie. Last but not least litt sie jedoch unter dem (kaum erfüllbaren) Druck ihrer eigenen Erwartungen.
In ihrer Zielformulierung spiegeln sich darüber hinaus auch die anderen von Eberspächer genannten Druckbedingungen. Die externen Ziel- und Zeitvorgaben werden von ihrem Professor und den äußeren Gegebenheiten vorgegeben („Ich muss Wettbewerbe gewinnen, noch vor der Aufnahmeprüfung zum Solistenexamen.“).
Das Faktum der Nichtwiederholbarkeit führt der Pianistin vor Augen, dass sie beim Wettbewerb, der Aufnahmeprüfung oder dem Konzert genau eine Chance hat, ihr Können zu zeigen. Diese Druckbedingung wird noch verschärft durch den Anspruch, die Kompositionen perfekt und fehlerfrei zu musizieren. Schafft sie dies nicht, antizipiert sie Konsequenzen des Misslingens („Ich bekomme keinen Platz im Solistenexamen und werde keine Einladungen zu Konzerten bekommen.“). Gerade bei Aufgaben, die einem festgelegten Regelwerk folgen, die das Publikum möglicherweise sogar auswendig kennt, können Fehler unter Umständen gewaltige Konsequenzen nach sich ziehen.
So geschehen am 31. Mai 2005. Nach sieben Jahren Planungs- und Bauzeit wurde der Neubau der Allianz-Arena in München mit einem Spiel des FC Bayern gegen die deutsche Nationalmannschaft feierlich eröffnet. Natürlich durfte hierfür die Nationalhymne nicht fehlen, gesungen von einer der damals erfolgreichsten Sängerinnen der deutschen Popszene: Sarah Connor. A capella, vor 66 000 Zuschauern im Stadion und vor einem Millionenpublikum vor den Bildschirmen.
Es wären nur noch zwei Zeilen gewesen, dann wäre die damals 24-Jährige für ihre berührende Performance gefeiert worden. Aber es kam anders – auf einmal war ihr Kopf leer. Statt „Blüh‘ im Glanze“ sang sie „Brüh‘ im Lichte“. Die Reaktionen des Publikums reichten von Mitleid bis zu boshafter, abwertender Häme. Die Videos sind bis heute im Internet zu finden.
Einige Zeit später beschrieb Sarah Connor, dass dieser kurze Blackout durch eine plötzliche Irritation ausgelöst wurde.
„Ich hatte die ganze Zeit meine Augen zu, war voll konzentriert. Als ich sie ein einziges Mal kurz öffnete, sah ich die ganzen Lichter um mich herum und habe direkt ‚im Lichte‘ gesungen.“
Die Irritation erschütterte ihre bis dahin stabile Konzentration und innere Präsenz. Trotzdem fasste sie sich in Sekundenschnelle, stellte ihre Präsenz wieder her und sang die Wiederholung der Textzeile korrekt. Dies schützte sie zwar nicht vor der Häme der hyperventilierenden Netzgemeinde, bewies aber ihre Professionalität. Denn trotz des Fehlers, der offensichtlich schwerwiegende Konsequenzen nach sich trug, blieb sie handlungsfähig. Eine Eigenschaft, die dem Protagonisten des folgenden Beispiels eine immense Blamage erspart hätte.
Fehlende Handlungsoptionen
Michael Bay, ein äußerst erfolgreicher Actionfilmregisseur und -produzent von Kassenschlagern wie Bad Boys, Transformers oder Armageddon wurde 2014 zur Consumer Electronic Show (CES) nach Las Vegas eingeladen. Seine Aufgabe war, vor großem Publikum und zahlreichen Kameras den brandneuen Curved TV von Samsung zu präsentieren. Dabei sollte er mit Samsungs Vizechef Joe Stinziano darüber plaudern, was ihm als Filmprofi besonders an diesem neuen Gerät gefalle. Bay betrat die Bühne betont locker. Nach zwei begrüßenden Sätzen begann er jedoch zu stammeln und wurde offensichtlich unsicher. Stinziano fing das Ganze professionell auf und lenkte das Thema auf das Gerät. Aber statt eines freundlichen Satzes über den Fernseher, der Bay wahrscheinlich in jedem Smalltalk leicht von den Lippen gegangen wäre, verließ der Hollywood-Produzent auf einmal fluchtartig die Bühne.
Was war passiert? Michael Bay hatte sich darauf verlassen, seinen Text vom Teleprompter abzulesen. Dieser lief aber zu schnell ab. Nach zwei Sätzen wurde er unsicher und formulierte das sogar („Sorry, the type is all off“). Trotzdem schaffte er es nicht mehr, sich selbst zu beruhigen und das Interview ohne Teleprompter zu Ende zu bringen. Obwohl seine Aufgabe lediglich darin bestand, über seinen Arbeitsalltag zu plaudern und etwas Nettes über das neue Gerät zu sagen, geriet Bay in Panik. Als einzige Handlungsoption blieb ihm die Flucht von der Bühne.
Fehlende Handlungsfähigkeit und damit fehlende Souveränität auf der Bühne kann aus unterschiedlichen Gründen entstehen. Ob durch eine unrealistische Selbsteinschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit, akut auftretende körperliche Beeinträchtigungen (z.B. plötzliche Heiserkeit oder Schmerzen), mentale Störungen (z.B. Trigger, selbstherabwürdigende Gedanken) oder Beeinträchtigungen von außen – wenn wir mental nicht auf die Störung vorbereitet sind und einen Lösungsplan aktivieren können entsteht eine panische Überreaktion.
In diesem Panikmodus sind Menschen nicht mehr in der Lage, aus eigener Kraft flexibel und zielorientiert zu reagieren, sondern folgen angstbasierten Reaktionsmustern, die als fight, flight or fright (Kampf, Flucht oder Erstarrung)-Reaktion bekannt sind. Diese Reaktion löst meist Emotionen wie Wut oder Verzweiflung aus. Oftmals wird in solchen Momenten der Hilflosigkeit die Verantwortung nach außen verlagert. Die Situation soll also gefälligst von jemandem anders gelöst werden. Ist dies nicht möglich, wird wenigstens im Nachhinein die Schuld an der Situation auf jemand anderen übertragen. Dann ist der Regieassistent, die persönliche Referentin oder die Technik schuld an der Misere.
Ein solches Handeln ist und wirkt unsouverän. Wird ein solches Vorkommnis mental nicht aufgearbeitet, sondern verdrängt, wird nicht nur persönliches Wachstum verhindert. Vielmehr können sich solche unverarbeiteten Prozesse verselbstständigen und bei späteren ähnlichen Gelegenheiten als (mentale oder körperliche) Störungen das weitere Handeln beeinträchtigen.
Im Gegensatz dazu wirken Menschen souverän, wenn sie flexibel und handlungsfähig mit ungewohnten oder unerwarteten Situationen auf der Bühne umgehen können. Wie zum Beispiel die Moderatorin Barbara Schöneberger, deren Kleid in einer Live-Sendung gerissen war. Charmant bat sie um Nadel und Faden und improvisierte ihren Abgang hinter die Bühne im Zusammenspiel mit Günter Jauch als unterhaltsames, witziges Intermezzo. Kurze Zeit später erschien sie im neuen Kleid und wurde vom Publikum gefeiert .
Diese Art der Souveränität verlangt Zielklarheit und eine Verbundenheit mit dem Selbst und dem Außen. Ist diese Verbundenheit gestört, hat dies ebenfalls Konsequenzen für die Performance auf der Bühne.
Mangelnde Verbundenheit
Alle Reaktionen und Strategien unseres Organismus dienen dazu, uns zu unterstützen und unser Überleben zu sichern. Die durch Panik ausgelöste Flucht, Kampf- oder Erstarrungsreaktion hat zum Ziel, eine Distanz zur „gefährlichen“ Situation herzustellen. Dadurch entsteht Zeit und Raum, um die eigenen Kräfte zu bündeln und die kritische Situation zu bewältigen. Nun ist die Bühne an sich kein lebensgefährlicher Ort, sondern ein Platz, von dem aus wir Menschen berühren, begeistern, überzeugen oder motivieren wollen. Schaffen wir es, die eigene Begeisterung für das, was wir präsentieren, zu teilen, ist dies ein klarer Indikator für eine gelungene Bühnenperformance. Was wir anstreben ist Resonanz.
Eine grundlegende Voraussetzung für Resonanz ist Offenheit, um mit dem Publikum in Verbindung zu treten . Im Gegensatz zur Manipulation ist Resonanz aber keine Einbahnstraße, in der nur mit dem Publikum etwas passiert. Resonanz bedeutet, dass wir auf der einen Seite das Publikum berühren und gleichzeitig von ihm berührt werden. Ein gemeinsames Schwingen also. Darüber hinaus kann die Verbundenheit zum Inhalt des Vortrags, zum Raum, oder zu anderen Partnern auf der Bühne ebenfalls Resonanzprozesse erzeugen, die sich auf das Publikum übertragen. Resonanz über Bande sozusagen, die bei Handlungen vor der Kamera unbedingt notwendig ist.
Die Herausforderung ist, dass solche Resonanzprozesse unverfügbar sind, also nicht willentlich herbeigeführt werden können. Zudem stören bewusste oder unbewusste Prozesse die Verbundenheit im Innen oder Außen, so dass die für Resonanzprozesse erforderliche Offenheit nicht vorhanden ist.
Eine weltweit gefeierte Sängerin beschrieb , wie sie in der Zusammenarbeit mit einem Kollegen auf einmal eine „pubertäre“ Nervosität überfiel. Sie erklärte sich diese Reaktion damit, dass sie mit diesen Kollegen als junge Anfängerin schon einmal zusammengearbeitet hatte. Unabhängig vom Verhalten oder dem Karrierestatus der Kollegen fiel sie in die Rolle des Mädchens zurück, was sie zutiefst verunsicherte. Durch diesen Trigger verlor die Sängerin die Verbundenheit zu ihrem Erwachsenen-Ich, ein Phänomen, das in der Psychologie Regression genannt wird. Durch diese Regression wurde die Sängerin so sehr verunsichert, dass sie ihr Können nicht vollständig abrufen konnte.
Verbundenheit wird ebenso gestört, wenn gegenüber anderen Menschen auf der Bühne oder im Publikum Antipathie oder Angst empfunden wird. In Coachings wird häufig thematisiert, dass bei Auditions, Probespielen oder Castings die Juroren mehr an ihrem Handy als an der Performance auf der Bühne interessiert sind. Dieses offene Desinteresse löst Antipathie und Wut bei den Künstlern aus, so dass jegliche Verbundenheit zum Publikum, aber auch zum Werk gestört wird. Ein weiterer Störfaktor ist der Umstand, auf der Bühne Dinge vertreten zu müssen, die nicht in Einklang mit den eigenen Zielen, Überzeugungen oder Werten stehen. Ob die Führungskraft in der Jahreshauptversammlung, die Intendantin in der Mitarbeiterversammlung oder der Künstler in der Inszenierung: Wenn Handlungen durchgeführt werden müssen, die den eigenen Werten widersprechen, entsteht eine Inkongruenz zwischen der Selbstbestimmung und den (vorgegebenen) Zielen. Diese stören sowohl die Verbundenheit zum Selbst wie auch zum Inhaltlichen im Außen. Aus der inneren Haltung des „Ich will das eigentlich gar nicht“ entstehen Gefühle der Unlust und des Ekels. Diese Emotionen erzeugen Distanz und dienen dem Selbstschutz der Person. Sie verhindern aber auch das Entstehen von Resonanz und damit eine überzeugende Bühnenperformance.
(Zu) hohe Erwartungen können Präsenz beeinträchtigen, fehlende Handlungsoptionen die Souveränität stören und mangelnde Verbundenheit mit dem Selbst und den äußeren Gegebenheiten Resonanz erst gar nicht entstehen lassen.
Im Idealfall ist die Bühnenpersönlichkeit also mit sich selbst und dem Inhalt ihres Handelns verbunden, weiß um ihr Können und bleibt auch in schwierigen Situationen handlungsfähig. Sie ist bereit für Resonanzprozesse und tritt mit dem Publikum selbstbewusst in Interaktion.
Empfehlung
Wer diese Kompetenzen erlernen und vertiefen möchte, findet im Buch „Professionell singen. Mentale Stärke, Eigenverantwortung, Selbstorganisation“ Erläuterungen und zahlreiche Methoden für das Selbststudium oder die Arbeit im Unterricht.
Quellen
Eberspächer, H. (2009), Ressource Ich. Stressmanagement in Beruf und Alltag. München: Hanser. S.66.
https://www.20min.ch/story/sarah-connor-wieso-sie-falsch-sang-743619229992
https://www.t-online.de/unterhaltung/tv/id_76321830/bei-die-2-barbara-schoeneberger-platzt-das-kleid-auf.html
Rosa, H.(2019). Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp (siehe Kapitel 4)