Über das Verzeihen

von | 24 Sep 2024 | Allgemein, Geistiges, Musik

Echtes Verzeihen ist der Schlüssel zu Menschlichkeit und Liebe. Dennoch sind wir oft nachtragend und es fällt schwer, zu verzeihen. Woran liegt das eigentlich?

Contessa perdono!

Kennen Sie das Finale von Mozarts Le nozze di Figaro? Falls nein, sollten Sie sich fünf Minuten Zeit nehmen und sich das Finale des vierten Aktes anhören, z.B. hier mit Federica Lombardi, Christian Gerhaher und dem Ensemble der Bayerischen Staatsoper unter Constantinos Carydis:

Zu diesem turbulenten Durcheinander kommt es, weil die Gräfin und ihre Zofe Susanna einen Kleidertausch inszeniert haben. Der geltungssüchtige Graf Almaviva, der immer auf der Suche nach amourösen Abenteuern ist, wird in Folge dieser Verkleidungs-Falle von seiner Frau, der Gräfin, in flagranti ertappt. Die Fallhöhe ist besonders hoch, weil der Graf gerade noch seine angebliche Frau (nämlich die verkleidete Susanna) des Ehebruchs mit Figaro (Susannas Ehemann in spe) bezichtigt, obwohl er zuvor seiner eigenen Frau, die er für Susanna hielt, Liebesschwüre ins Ohr geraunt und einen goldenen Ring zum Zeichen seiner Liebe geschenkt hat.
Die Blamage vor den Augen des gesamten Hofes ist so eindeutig, dass es dem Grafen (ausnahmsweise) nicht möglich ist, zu lügen oder andere für sein Missverhalten verantwortlich zu machen.
An diesem qualvollen Tiefpunkt erlebt er seine Katharsis und tut auf einmal das einzig Richtige. Er bereut und bittet seine Frau um Verzeihung. Ohne Erklärungen, Beschwichtigungen, Beschuldigungen oder Ausflüchte. Einfach nur mit einem dreifach wiederholten „Verzeihung“.

Conte Almaviva: Contessa perdono! Perdono, perdono!
Contessa Almaviva: Più docile sono, e dico di sì

Die Antwort der Gräfin macht Staunen. Könnte sie ihm doch jetzt eine Szene machen. Sie könnte ihren Triumph auskosten oder (wie Susanna es zuvor bei Figaro gemacht hat) ihm eine schmieren. Aber nichts dergleichen. Alles was sie sagt, ist: „Più docile sono, e dico di sì“. Das kann auf verschiedene Arten verstanden werden. Die naheliegendste ist: Ich bin gutmütiger (als du) und sage ja. Denn der Graf hat ja zuvor alle Bitten um Verzeihung abgeschmettert.
Das Wort docile wird aber auch oft abwertend im Sinne von unterwürfig, leichtgläubig verstanden. Aus diesem Blickwinkel heraus kann die Reaktion der Gräfin als typische (weibliche) Ausweichhandlung zur Gesichtswahrung verstanden werden. Zum Beispiel, weil sie das Ganze schnell hinter sich bringen will, wohl wissend, dass es am nächsten Tag genauso weitergehen wird wie zuvor. Vielleicht auch, weil sie in ihrer Opferhaltung verharrt, die schmerzhafte Wahrheit so schnell wie möglich verdrängen möchte und den Mut des Aussteigens nicht aufbringen kann. Oder weil der Graf dadurch (emotional) erpressbar wird und sie dies an anderer Stelle nutzen könnte.

Verzeihen als Akt der bedingungslosen Liebe

Es gibt aber noch eine dritte Lesart: nämlich die des Verzeihens und der Berührung mit der tiefen Erkenntnis der (bedingungslosen) Liebe. Dies ist, was Mozarts Musik in diesem Moment zum Klingen bringt. Er deutet docile in seiner Bedeutung als Verb docere, was zeigen, lehren, dazu bringen, zu wissen bedeutet. Und genau das dazu bringen, zu wissen, also die Erkenntnis erleben wir in dieser Szene durch Mozarts Musik. Nach dem Trubel des Verwechselspiels tritt ein Moment der tiefen Ruhe ein. Es singt jeweils nur eine Stimme. Das Orchester begleitet mit zarten liegenden Akkorden. Man spürt die innere Erschütterung des Grafen. Man hört zum ersten Mal an diesem Abend die authentische, zerbrechliche Stimme eines auf sich selbst zurück Geworfenen.
Diese echte Stimme rührt die Gräfin. Sie erkennt und versteht seine Not. Sie sieht, dass er am Boden liegt und ernsthaft bereut. Sie handelt im mutigsten Sinne demütig und entscheidet sich für die Liebe, anstatt für Rache und Zorn. In dieser Entscheidung liegen die höchsten Qualitäten der weiblichen anima.
Diese Größe des Verzeihens ist aber nicht nur eine selbstlose Tat. Denn durch ihr Handeln des Verzeihens und Vergebens löst sie sich auch selbst aus diesem Teufelskreis der Vorwürfe, des Betrugs, des gegenseitigen Quälens, Nachtragens und der Rachegedanken.

Die Entscheidung zwischen Hass oder Liebe

Die Wirkung des Verzeihens hat der Anthroposoph Sergej O. Prokofieff (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Komponisten) eindrücklich beschrieben. Er erzählt die Geschichte eines KZ-Überlebenden, dessen Frau, seine zwei Töchter und seine drei Söhne vor seinen Augen mit Maschinengewehren hingerichtet wurden. Er bettelte darum, ebenfalls erschossen zu werden, wurde aber zum Arbeitsdienst ins Lager gebracht. In diesem Moment sah er sich vor die Wahl gestellt, sich entweder für den Hass oder die Liebe zu entscheiden. „[…] Der Haß hatte gerade sechs Personen getötet, die mir das meiste auf der Welt bedeuteten. Ich entschied mich dafür, daß ich den Rest meines Lebens – mögen es nur wenige Tage oder viele Jahre sein – damit zubringen wollte, jede Person, mit der ich zusammenkam, zu lieben.“
An der Wucht dieser Entscheidung ist zu spüren, welche fast übermenschliche Kraft es braucht, sich für den Weg der Liebe und des Verzeihens zu entscheiden. Ist es doch deutlich bequemer, in seinem Schmerz zu verharren, ebenfalls zu hassen und alle eigenen Unzulänglichkeiten diesem Ereignis zuzuschreiben.
Erstaunlicherweise wird in diesem Buch auch der Gesundheitszustand des Überlebenden und seine Wirkung auf andere beschrieben. Er wurde als aufrecht gehend, mit hellen Augen und unermüdlicher Energie beschrieben, obwohl er sechs Jahre im Lager unter unmenschlichen Bedingungen verbracht hatte. Nach der Befreiung des Lagers wirkte er aufgrund seiner Fremdsprachenkenntnisse als Dolmetscher und unterstützte bei der Feststellung der Personalien der Lebenden und Verstorbenen bis zu 15 oder 16 Stunden am Tag, ohne müde zu werden oder an Kraft zu verlieren. Was also hat diesen Mann befähigt, dieses Trauma auf solch beeindruckende Art und Weise zu bewältigen und dabei körperlich und geistig gestärkt und empathisch für andere wirksam zu sein?

Das Zusammenwirken zwischen höherem und niederem Ich

Prokofieff beschreibt das Verzeihen als ein Akt der Selbstüberwindung des niederen Ichs. Dadurch wird die Verbindung zu den Impulsen des höheren Ichs ermöglicht. Es geht also weder um ein Verdrängen oder ein Vergessen des Geschehenen. Es geht um das Annehmen im Erkennen des Zusammenwirkens des höheren mit dem niederen Ich.
Ein zentrales Element auf diesem Weg liegt nach Prokofieff in der Erkenntnis, bzw. der erkennenden Liebe die mit dem höheren Selbst verbunden ist. Ohne diese Erkenntnis sind wir unbewusst. Wir folgen ausschließlich dem niederen Ich, nachtragend, selbstsüchtig und aufbrausend. Mozarts Graf Almaviva scheint geradezu archetypisch für die Ausprägung des unbewussten niederen Ichs zu stehen. Durch seine Reue öffnet sich für einen Moment die Pforte zu seinem höheren Ich. Die Gräfin erkennt und spiegelt dieses metaphysische Geschehen und durch Mozarts Musik dürfen wir ihm lauschen, es erkennen und mitvollziehen. Dieses Ereignis ist so bewegend, dass alle anderen Protagonisten in einem choralartigen Gesang das Motiv der Gräfin aufnehmen und auf die Worte „Ah tutti contenti saremo cosi“, also „So sind wir alle zufrieden“ die Pforte zur himmlischen Sphäre öffnen. Mozart wäre aber nicht Mozart, wenn er das Allzumenschliche nicht genau darstellen würde. Nach dieser kurzen Erleuchtung geht der (musikalische) Trubel wieder los. Zwar wird die Erkenntnis noch formuliert, dass dieser Tag der Qualen und des kapriziösen Wahnsinns alleine von der Liebe beendet werden konnte. Aber die Raserei der Musik zeigt uns, dass das niedere Ich das Steuer in Richtung Verdrängen und hedonistisches Feiern bereits wieder herumreißt.
So bleibt am Schluss die Erkenntnis, dass wir es selbst in der Hand haben. Ob wir weiter ausschließlich dem niederen Ich folgen oder durch das Erkennen der bedingungslosen Liebe den Weg zum höheren Ich wählen. Das liegt in der Entscheidung, Freiheit und Selbstverantwortung jedes Einzelnen. In jedem Moment, jeden Tag auf Neue.

Quellen

https://www.etymonline.com/de/word/docile

Prokoffieff, S.O. (1991). Die okkulte Bedeutung des Verzeihens. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben.

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