Vom Zauber des Anfangs
Der Anfang alles Tuns hat eine besondere emotionale Qualität. Oftmals wird diese jedoch getrübt durch Spannung, Nervosität oder Angst. Wie können wir den Zauber des Anfangs für alle erlebbar machen?
Alpha und Omega
Wie beginne und wie ende ich?
Diese beinahe metaphysisch anmutende Frage beschäftigt früher oder später jeden, der ein Kunstwerk, eine Rede oder Ideen, Visionen und Gedanken auf die Bühne bringen will.
Wie schaffe ich es, das Publikum in den Bann zu ziehen? Wie kann ich sie fesseln, sie von dem, was ich tue, überzeugen? Beginne ich mit einem Paukenschlag, einer Fanfare oder gar mit einem Feuerwerk?
Der Zauber des Anfangs ist für die Protagonisten auf der Bühne oftmals weniger magisch als quälend. Die ersten fünf Minuten sind der Horror. Nervosität bis hin zu Lampenfieber oder Panikattacken. Stolpern beim Aufgang auf die Bühne. Hohe Erwartungen, falsches Tempo, schlechte Akustik, blendende Scheinwerfer. Fluchtreflex. Keine guten Bedingungen für den Aufbau einer Resonanzbeziehung mit dem Publikum.
Aber woran liegt es denn, dass der Zauber des Anfangens so gar nicht mehr spürbar ist?
Vielleicht an der aggressiv-manipulativen Grundhaltung, des in den Bann ziehen, fesseln oder überzeugen Wollens? Oder liegt es daran, dass ich mir der Sache, die ich anfangen will auf einmal nicht mehr sicher bin?
Klarheit
„Tritt fest auf, mach’s Maul auf, hör bald auf.“ Diese bierzeltartige Verkürzung von Martin Luthers Auslegung der Bergpredigt (Matth. 5,1 f.) mahnt Prediger und Redner alle Couleur, ihrem Publikum zu imponieren, sie vielleicht auch zu beeindrucken und sie auf jeden Fall nicht zu langweilen. Interessant dabei ist, dass Luther sich mit diesem forschen Dreiklang auf Jesus Christus‘ Wirkung bezieht. Er beschreibt den idealen Prediger. Dieser solle wie Jesus fest auftreten, weil er zu seinem Tun berufen wurde. Er solle offen und ohne Scheu die Wahrheit reden und wenn alles gesagt ist, enden.
Nimmt man sich die Bergpredigt zur Hand, sucht man vergebens nach Pauken, Trompeten oder einer beeindruckend lauten Stimme. Was man aber findet, ist Klarheit.
Ein Mann mit einer klaren Botschaft. Der sich offen und angreifbar vor sein Publikum stellt, wohl wissend, dass sein Auftreten und seine Botschaft beim Publikum auf Widerspruch stoßen kann und wird. Nachdem er gesagt hat, was er zu sagen hatte, vertraut er darauf, dass seine Worte bei seinen Zuhörern auf fruchtbare Erde fallen, keimen und wachsen werden. Christus hat nicht das Ziel, Menschen manipulativ in den Bann zu ziehen, oder zu fesseln. Seine Worte berühren unser Sein, Empfinden und Denken auf einer anderen Ebene, so wie besondere musikalische Motive der Anfänge großer Meisterwerke.
Neugierde und Offenheit
Wir alle kennen Ohrwürmer dieser Art: Ta ta ta taaam: Das Schicksal klopft an die Tür-Motiv aus Beethovens fünfter Symphonie, der Halbtonpraller mit fallender Kaskade aus Bachs Toccata und Fuge d-moll, BWV 565, Mozarts Zauberflötenakkorde mit anschließender staccato-Fuge, der dreistimmige Falsett-Männerchor Is this the real life von Queens Bohemian Rhapsody (alternativ auch das Rhythmus Pattern von We will rock you) oder auf der sprachlichen Ebene der Eingangssatz von Faust I Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten.
Diese Anfänge verzaubern uns, sie führen uns in eine andere Welt und wecken unsere Neugierde. Die Neugierde, diese ur-menschliche Eigenschaft, hat jedoch einen schlechten Leumund. Sie trägt eine Sünde im Namen, nämlich die Gier und wird schon kleinen Kindern abtrainiert, indem man ihnen ein Sei nicht so neugierig zuschimpft. Dabei ist die Neugierde doch das, was wir uns von unserem Publikum wünschen. Offenheit dem Neuen gegenüber und die Bereitschaft, sich auf das einzulassen, was noch unbekannt ist. Interessanterweise verweist Wolfgang Pfeifer im etymologischen Online-Wörterbuch darauf, dass die Ableitung von Gier nicht nur mit mhd. gir verwandt ist, sondern auch dem mnd. gīren zugeordnet und somit der Wurzelform g̑hēi-, *g̑hī- ‘gähnen, klaffen, offenstehen’ entstammen könne.
Das Offenstehen ist laut Hartmut Rosa eine der Grundvoraussetzungen für Resonanzprozesse. Dies gilt immer für beide Resonatoren, Sender und Empfänger, Künstler und Publikum, Werk und Rezipient. Wie wäre es also, wenn wir unser Konzept von Neugierde neu justieren würden und es vom schlechten Gewissen reinigen? Weg vom gierigen Begehren, dem Habenwollen, dem Besitzenwollen, dem Fesseln, dem Manipulieren und der kontrollierenden Angst. Hin zur Neugierde als waches Offen-Sein, echtes Interesse an Personen, Inhalt und Erkenntnis, der Fähigkeit des Sich-Berührenlassens und der Auslenkbarkeit in gleichzeitig beständiger Selbstverbundenheit. Der Zauber des Anfangs wohnt in der Offenheit. Dem vertrauenden Sich-Einlassen auf das was kommt. In den feierlichen, prächtigen Klängen, aber genauso in den stillen und nachdenklichen Tönen.
Als Motto sei dem Schöne Töne Projekt deshalb das erste Lied aus Hugo Wolfs Italienischem Liederbuch vorangestellt. Möge sein Zauber Sie erfüllen und beschenken.
Auch kleine Dinge können uns entzücken,
Auch kleine Dinge können teuer sein.
Bedenkt, wie gern wir uns mit Perlen schmücken;
Sie werden schwer bezahlt und sind nur klein.
Bedenkt, wie klein ist die Olivenfrucht,
Und wird um ihre Güte doch gesucht.
Denkt an die Rose nur, wie klein sie ist,
Und duftet doch so lieblich, wie ihr wisst.
(Text von Paul Heyse)
Quellen:
Etymologisches Online Wörterbuch https://www.dwds.de/wb/etymwb/Neugierde
Luther und die Auslageung der Bergpredigt https://jochenteuffel.com/2020/08/29/tritt-frisch-auf-tus-maul-auf-hor-bald-auf-martin-luther-uber-den-rechten-prediger-in-seiner-auslegung-der-bergpredigt-1532/